Rezension des Schriftstellers Willi Gettel zu Goethes ungeliebter Engel-von Johanna Wech
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Rezension des Schriftstellers Willi Gettel zu Goethes ungeliebter Engel-von Johanna Wech

Theater unter Turm Düsseldorfer Straße. Ohne Turm. Kirchturm in Nähe als Namensstifter gekapert. Turmklau zu Wilmersdorf ein origineller Akt. Es gibt ihn noch: den Berliner Mutterwitz. Lichtblick im öde und düster gewordenen Westen der Stadt. Das kleine, zu ebener Erde gelegene Theater triumphiert seit der ideellen Aneignung des Kirchturmes symbolisch über Traufhöhen, Giebelspitzen, Antennen und Schornsteine der Nachbarschaft. Ehrgeiz der Turmräuber mit Sieg im Höhenwettbewerb nicht gestillt. Wollen erlahmte Kulturpolitik in diesem Stadtteil aufmöbeln: mit künstlerischer Fantasie und schöpferischem Geist.

Licht und Freiheit beflügeln sich gegenseitig, geht es um mehr als nur Bauklötze nebeneinander zu reihen. Es dürfte kein Zufall sein, dass „Goethes ungeliebter Engel“ im Turmtheater aufgeführt wurde und wahrscheinlich weiterhin im Programm bleibt. Das Schauspiel von und mit Johanna Wech ist dem ewigen Wunsch nach Freiheit gewidmet. Mit Bettina von Arnim und Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen wählt sie zwei Gestalten des 19. Jahrhunderts, die den Gegensatz von Freiheit und Unterdrückung prophetisch verkörpern: in einem historischen Moment des Epochenbruchs. Vor diesem Hintergrund hebt sie die Grauenhaftigkeit einer Herrschaft hervor, deren historische Zeit abgelaufen ist und die gläubige Hilflosigkeit eines noch kindlichen Gemütes. Damit stellt sie den aktuellen Bezug zu heute her. Kindliches Gemüt, lässt sie anklingen, lässt sich als Naivität interpretieren, die über das Kinderalter hinaus den Erkenntnishorizont eines Menschen bestimmen kann. Bettina von Armin war eine hochgebildete und berühmte Gestalt der Romantik, Friedrich Wilhelm IV. hingegen ein despotischer, feudalabsolutistischer Reaktionär. Naiv war sie als erwachsene Frau nicht. J. Wech wählt die noch junge, kindliche, verträumte Bettina. Erweckt vom Geist der Großen Französischen Revolution und Beethoven als ihrer Fanfare eilt sie zu Goethe, den sie als Sinnbild der Aufklärung anruft. Mit der voraneilenden industriellen Revolution ist auch im rückständigen Preußen das Bürgertum als neues historisches Subjekt auf die politische Bühne getreten, das sich 1848 revolutionär erhebt. Die junge Bettina ist vom Geist der Freiheit erfasst, glaubt aber an den gerechten König, der Friedrich Wilhelm IV. nicht ist. Die Revolution 1848 wird blutig niedergeschlagen. Für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hatte je kein König Verständnis. Wenn nicht heute, dann morgen, bemerkte Fontane angesichts der Märzgefallenen.

J. Wech wählt die junge Bettina nicht, um eine rührselige Story zu servieren, in der das Leid klischeehaft im Vordergrund steht, sie wählt sie, weil sie zwar das herrschende Elend, die Not, die Unterdrückung des Volkes erkennt und erfühlt, zugleich aber an den gerechten König glaubt und hofft, der schaffe Freiheit und Gerechtigkeit, erführe er nur von allem. Ihr Sehnen und Hoffen erfüllt sich nicht, denn der König rührt keinen Finger, sie zu gewähren. Sie klagt, verzweifelt, bestürmt Goethe, beharrt, insistiert. Goethe jedoch, dem sie nervend ins Ohr jammert, kann ihr nicht helfen. Sie wiederum gibt keine Ruhe, lässt von ihrem Glauben an den gerechten König nicht ab. Ein Engel schon, aber ein anstrengender und daher ungeliebter. Der Dialog mit einem fiktiven Goethe bildet den dramatischen Strang, der hilflose, aussichtslose Glaube an den gerechten König, das Anrennen gegen die von Goethe verkörperte Vernunft den dramatischen Kern. Ablauf und Botschaft sind anschaulich dargestellt. Dramaturgisch bedient sich J. Wech des von Aristoteles eingeführten Erzählelements der Mimesis, womit sie den dramatischen Spannungsbogen durchgehend aufrechterhält. Hervorzuheben ist, dass sie souverän auf Zwischenerklärungen verzichtet, nicht historisiert, sondern mit ihrem Stück die Realität von heute im Auge hat. Ihr Dialogpartner ist insofern kein fiktiver Goethe, als es sich um einen lebenden und zudem bemerkenswerten Schauspieler handelt, der es versteht, Bettina von ihrem Innern her zu empfinden. Ihr Dialog ist nicht nur künstlerisch ein Erlebnis, er ist auch ein politisches Lehrstück. Requisiten, Kostüme fallen weg. Die Sprache malt aus, was auszumalen ist. Beide, Johanna und ihr Dialogpartner empfinden ihre Bettina, ihren Goethe, versetzen sich in sie hinein, machen sie zu Gestalten von heute, sind sozusagen ein Goethe und eine Bettina von heute.

Willi Gettel